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Die Schuld eine Frau zu sein
Die Schuld, eine Frau zu sein
In der Nacht vom 22. Juni 2002 fällt für Mukhtaran Bibi (28) eine Entscheidung, die ihr Leben von Grund auf an verändern wird. Die Angehörige der Bauernkaste der Gujjar aus dem Dorf Meerwala in der pakistanischen Provinz Punjab, muss vor den Klan der höheren Kaste der Mastoi treten, der aus Grundbesitzern und Kriegern besteht und im Namen ihrer Familie um Vergebung bitten. Vergebung für ihren kleinen Bruder Shakkur, der vom Klan der Mastoi beschuldigt wird, mit Salma, einem Mädchen ihres Stammes „gesprochen“ zu haben. Ihr Bruder ist gerade mal Zwölf, die junge Frau dagegen über Zwanzig.
Weil
die Mastoi im Dorfrat zahlreicher vertreten sind, ist der Dorfrat
hilf-und ratlos. Die Mastoi verfügen nicht nur über mehr Macht, sondern
auch über mehr Waffen. Es gibt nur die einzige Chance: Eine Frau der
Gujjar muss im Namen ihres Stammes um Vergebung bitten. Und Mukhtaran
ist die Frau, die von ihrer Familie dazu ausgewählt wurde.
Warum ausgerechnet sie? Es gäbe so viele Frauen in der Familie...
„Weil
dein Mann dir die Scheidung gewährt hat. Weil du keine Kinder hast.
Weil du im richtigen Alter bist. Weil du den Koran lehrst und Ansehen
genießt.“
Als
Mukhtaran sich in der Dunkelheit auf den Weg macht, ist ihr Bruder
Shakkur seit Mittag verschwunden. Keiner weiss, was geschehen ist.
Shakkur war auf dem Zuckerrohrfeld in der Nähe der Mastoi und wurde
blutüberströmt von der Polizei von den Mastoi in Handschellen abgeführt
und eingesperrt. Die Mastoi bezichtigten in des Diebstahls von
Zuckerrrohr.
Die
Mastoi ergreifen häufig solche Repressalien. Sie sind gewalttätig, ihr
Stammesoberhaupt hat viele Kontakte zu entscheidenden Stellen. Deswegen
kann der Mullah von Meerwala jetzt auch nichts tun. Vergeblich hat er
die Freilassung des Bruders zu bewirken versucht.
Empört,
dass sich ein Gujjar-Bauer ihnen zu widersetzen versucht, ändern sie
die Anklage und behaupten, Shakkur habe Salma vergewaltigt. Nach dem
Gesetz der Scharia droht ihm dafür die Todesstrafe.
Nun soll eine Gujjar-Frau sich vor dem versammelten Dorf erniedrigen und um Vergebung bitten: Mukhtaran.
Den
Koran an ihr Herz gedrückt, macht sie sich durch die Nacht auf den Weg.
Sie, die selber weder lesen, noch schreiben kann, weil es keine Schule
im Dorf gibt. Die seit ihrer Scheidung den Kindern in Meerwala
ehrenamtlich Unterricht gibt. Das verschafft ihr Ansehen. Kraft und
Selbstvertrauen. Was soll ihr schon passieren? Sie hat sich keine
persönlichen Fehler vorzuwerfen, ist gläubig und hält sich seit ihrer
Scheidung von Männern fern, wie es erwartet wird. Während Salma macht
was sie will, eine aggressive geschwätzige Person ist.
Kurz
vor ihrem Ziel dringen wütende Stimmen an ihr Ohr. Über hundert Männer
haben sich versammelt und warten bereits auf ihr Eintreffen. Bilden
eine Mauer um sie. Jetzt wäre der Zeitpunkt ihrer Vergebung gekommen.
Doch bevor es dazu kommt, schlagen sie sie bewusst-los. Als sie wieder
zu sich kommt, findet sie sich in einem geschlossenen Raum wieder, wo
vier Männer sie immer wieder vergewaltigen. Sie brauchen nicht zu ihren
Waffen zu greifen, die Vergewaltigung ist die Waffe schlechthin. Sie
dient dem Zweck, das Opfer zu demütigen und sich für alle Zeiten zu
rächen. Ihr den Tod bringen. Die Todesstrafe.
Als
sie die Tat hinter sich gebracht haben, zerren sie ihr Opfer nackt vor
die Tür, wo das halbe Dorf, ihr Vater und ihre Brüder von den Waffen
der Mastoi bedroht ausharren mussten. Wie eine Puppe, vor Schmerzen
gebeugt und ihr Gesicht wahrend, läuft sie davon, ihr Vater und ihre
anderen Brüder folgen. Als sie ihren Hof erreichen, steht ihre Mutter
weinend, den Blick auf den Boden gerichtet, stumm. Die anderen Frauen
der Familie weinen. Der Horror ist noch nicht beendet. Die Mastoi
behaupten, ihr Bruder Shakkur habe eine sexuelle Beziehung zu Salma
gehabt, sie sei bis zur Vergewaltigung durch ihn noch Jungfrau gewesen.
Mukhtar hat nur einen Wunsch: zu sterben. Und das ist es auch, was von
Frauen, die Opfer von „Ehrenver-brechen“ werden, erwartet wird.
Doch
Mukhtar wählt einen anderen Weg. Sie überlebt und zieht vor Gericht. In
einem aberwitzigen Kampf gelingt es ihr, ihre Peiniger hinter Gitter zu
bringen. Sie begreift, sie ist kein Einzelfall. Jede zweite Frau in
ihrem Land wird Opfer von Misshandlungen. Weil sie keine Schule und
keine Bildung haben, wissen sie nicht, um ihre Rechte zu kämpfen. So
gründet Mukhtar Mai eine Schule und wird zur Symbolfigur
Zusammen
mit Marie-Thérèse Cuny schrieb sie ihre Geschichte auf, lebt mit ihrer
Familie in dem kleinen Dorf Meerwala in der pakistanischen Provinz
Punjab. Es ist ein erschütterndes, aber mutmachendes Buch, weil es
wütend macht. Weil es die Hintergründe und Zusammenhänge zwischen
Stammessitten und Provinzdenken nachvollziehbar macht und Solidarität
mit den Opfern herstellt. Es ist ein wichtiges Buch, weil es dem Thema
„Ehrenverbrechen“ die hässliche Maske der Verlogenheit abreisst, der
alles geopftert wird, notfalls das Leben. Im Anhang bieten
Anlaufstellen Hilfe. ©Ulrike M. Dierkes
Sprache: Deutsch
Gebundene Ausgabe - 288 Seiten –
Droemer/Knaur
Erscheinungsdatum: Februar 2006, 16,90 €
ISBN: 3426273969
Ulrike 04.06.2006, 10.55
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